Kultur
Doppelpremiere: TanzJugendClub/Ballettstudio
Grau hat viele Farben
Patrick John Rebullida (links), Claudia Rietschel (vorn), Katerina Vlasova und Matthew Sly in der Produktion "Nacht" von Kerstin Kessel. Foto: t&w
ff Lüneburg. Sie alle haben ein Problem, mal deutlich erkennbar, mal weniger. Die Dame zum Beispiel, die da auf einem Stöckelschuh in den Raum stürmt, sich auf das Schuhregal stürzt, Stiefel, Pumps und Pantoffeln neu sortiert, wieder verwirft, neu sortiert und wieder rauswirft -- die benötigt ganz offensichtlich Hilfe. Dann sind da andere, die hocken nur still da, flüstern oder schleichen von einem zum nächsten. "Still-Mäuschen-Mucks" ist das Aufeinandertreffen von grundverschiedenen Menschen, die sich mitteilen wollen. Heidrun Stahl inszenierte das Geschehen, es bildet den ersten Teil der Tanzlabor-Premiere im Jungen Theater.
Es gibt eine Rahmenhandlung: Mehrere Selbsthilfegruppen treffen in einem Saal aufeinander -- das birgt natürlich einige Spannung. Da entwickeln sich unzählige Geschichten: äußere und innere Monologe über Sehnsucht nach Nähe, über Aggressionen und Irritationen. Eine Hochzeits- zeremonie ist zu erleben, in der etwas schief läuft, eine Prügelei (na klar, zwei Jungs natürlich), ein Selbstmordversuch, es gibt Schwärmereien und Ratlosigkeit. Zwei langjährige Paare haben ihren Auftritt, die sich aneinander abgearbeitet haben und nun verblüfft registrieren, dass ihre Gemeinsamkeiten unwiederbringlich dahin sind.
All das entwickelt sich fast gleichzeitig aus vielen Quellen, mündet in einen großen Strom, der sich wieder verzweigt. Unmöglich, all diese Extrovertierten und Schüchternen im Blick zu haben, das ist auch nicht zwingend. Eine graue Revue, denn es gibt nur diese eine Farbe, und doch ein schillerndes, faszinierendes Spiel, von 18 Jugendlichen und vier Profis bezaubernd getanzt, nach zehn Minuten war schon eine Stunde vorbei.
"Junge Choreographen" heißt der zweite Teil des Abends, eine Fortführung des "Ballettstudios" unter der Federführung von Kerstin Kessel. Sie inszenierte auch den ersten Beitrag, einen Traum: ein märchenhafter Trip durch die Nacht mit tanzenden Lichtgeistern und einem Piratenschiff -- und mit einem ernüchternden Erwachen. Matthew Slys "Wo sind die Satyrn hin?" ist als tänzerisches Capriccio angekündigt, eine freche Angelegenheit also: Ein klassischer griechischer Satyr, die Verkörperung körperlicher Lust, versucht, zwei dröge Zeitgenossen zu verkuppeln. Da sind allerhand Widerstände zu beseitigen, bis Er und Sie endlich zueinander finden beziehungsweise sich einander in die Arme treiben lassen.
Zwei weitere Beiträge gehen ineinander über: "Trockne mich" von Patrick John Rebullida und ein Solo von Katerina Vlasova erzählen von einer Katharsis: Befreiung von der Vergangenheit, Auseinandersetzung zwischen Gott und der menschlichen Natur, schließlich das Werden einer neuen Identität -- Schritt für Schritt, der Körper der Tänzerin wird, wie bei einem zunächst weißen Blatt Papier, im wahrsten Sinne des Wortes "beschrieben".
Langer Applaus für alle Beteiligten, zugleich erfolgreiche Bewährungsprobe für ein Konzept, das zwei bewährte Institutionen des Lüneburger Theaters, also TanzJugendClub und Ballettstudio, zu einem Abend verbindet. Nächster Termin: 2. März, 20 Uhr.